

OOH!: Wie schmal ist der Grat zwischen Häss-
lichem und Schönem?
WEINZETTL:
Wenn ich mir die Werbung
ansehe, ist der Grat ein ganz schmaler und
einer, der absolut dem Zeitgeschmack unter-
worfen ist und sich auch entsprechend schnell
verändert. Die Werbung greift ja meist auf Ten-
denzen in der Kunst, Strömungen in der Mode
oder der Musikszene zurück – im Übrigen oft
als Letzter in der Kette, was bedeutet, dass ein
Trend endgültig im Mainstream aufgegangen
und damit für bestimmte Segmente, aus denen
die Trends ursprünglich hervorgingen, bereits
erledigt, „out“, ist.
Das, was vom Zeitgeschmack, im Falle der
Werbung von einer möglichst großen Öffent-
lichkeit als „schön“ empfunden wird, ist das,
was im Trend liegt.
OOH!: Umberto Eco hat über die Ästhetik des
Hässlichen geschrieben. Sind wir in einer Zeit,
in der das Hässliche ausgespart wird, insbe-
sondere durch camouflierende Werbung?
WEINZETTL:
Die Werbung präsentiert
immer eine idealisierte Welt beziehungsweise
eine Welt, mit der sie beim Konsumenten
punkten kann. Marken suchen nach Akzeptanz
durch die Konsumenten, so breit wie möglich.
Es erinnert mich an Todd Brownings Horror-
klassiker „Freaks“ aus dem Jahr 1932. In der
berühmten und oft zitierten letzten Passage des
Films schreien die Freaks „One of us! We
accept her.“, nachdem die böse weibliche
Hauptfigur mit dem Namen Venus auch auf
Freak-Maße zurechtgestutzt wurde. Für das
Gefühl für „one of us“ gehalten zu werden,
würden Marken alles tun – das Hässliche aus-
sparen, wenn es zweckmäßig erscheint, um
Aufmerksamkeit und Akzeptanz zu erzielen,
oder mit Hässlichem provozieren, wenn man
das Gefühl hat, dass man damit der Zielgruppe
besser gefällt.
OOH!: Wo beginnt Kitsch, jenseits des Häss-
lichen und Schönen?
WEINZETTL:
In unserem postmodernen
Zeitalter ist es wenig sinnvoll, mit dem Begriff
„Kitsch“ zu operieren, denn längst ist alles zum
Zitat von etwas Anderem geworden. Gewisser-
maßen kann alles Mögliche als Kitsch goutiert
werden und sei es auf ironische Weise. Jemand
hat den Kitsch einmal als Abstecher zum
Gefühl bezeichnet, und in diesem Sinn ist Wer-
bung zu 90 Prozent Kitsch und kann auch gar
nichts anderes sein.
OOH!: Inwieweit kann man mit Hässlichem
Schönes provozieren?
WEINZETTL:
Ich kann mir das nur im
Bereich des Social Advertising vorstellen. Mit
Hässlichem aufzuwarten und zu hoffen, dass
die Provokation, sofern sie als solche empfun-
den wird, Schönes – also für die Gesellschaft
insgesamt Nützliches – hervorbringt. Ich denke
etwa an krasse Kampagnen, die aus Rauchern
Nichtraucher machen sollen oder aus Rasern
verantwortungsvolle Autofahrer. Ob diese
Methode wirkt oder völlig absurd ist – weil von
der intendierten Zielgruppe einfach ausgeblen-
det – hat aber bisher noch niemand endgültig
beweisen können.
Interview: Dr. Helmut Strutzmann
Michael Weinzettl studierte an der Johann
Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt
am Main für den Master of Arts (M.A.),
Cultural Studies/Critical Theory and Analysis
und lehrte von 1981–1991 als Dozent an der
VHS Adult Education, ebenfalls in Frankfurt.
Seit 1987 ist er Chefredakteur und Heraus
geber von Lürzer’s Archive. (Foto: Carioca)
www.luerzersarchive.comHier Botschaft, dort Kitsch und Crudelity:
Benetton weist auf Vergewaltigung und
Doppelmoral hin, mit einem Motiv, das auf
den ersten Blick reine Harmonie ist. Anderer-
seits: die inszenierte Gewalt des Fleisches. Der
Schock zeigt sich brutal und wird somit banal.
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OOH!–Aspekte