OOH-Magazin Ausgabe 4 - 2023

Kommunikation im Spannungsfeld zwischen Staat und Individuum: Über das Selbstverständnis von Werbung und Medien in der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Diskussionskultur. Der Beirat für Chancenvielfalt im Fachverband Aussenwerbung unterstützt die deutsche OOH-Branche in ihrem Engagement für diskriminierungsfreie, vielfältige und nachhaltige Werbung im öffentlichen Raum. Dr. Ursula Matschke, langjährige Leiterin des Fachreferats Chancengleichheit und Diversity der Stadt Stuttgart, bringt ihre Expertise als Beraterin in den Beirat ein. Im Gespräch mit OOH! erläutert die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlerin die Aufgaben des Beirats, beschreibt die Veränderungen im öffentlichen Diskurs über Diskriminierung und nimmt Stellung zur Rolle der Werbung in einer offenen, liberalen Gesellschaft. OOH!: Sie waren viele Jahre lang Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Stuttgart. Welches Bild haben Sie sich in dieser Zeit von Werbung und Medien gemacht? DR. URSULA MATSCHKE: Zu Beginn meiner Arbeit wurde ich mit Diskussionen zum Sexismus in der Aussenwerbung konfrontiert, die sich zwischen persönlicher Einstellung des Betrachtenden und objektivem „no go“ bewegten. Bereits 2004 stellte ich deshalb – vor dem Hintergrund gesetzlicher Vorgaben – Kriterien auf, die kommunale Akzeptanz oder Ablehnung entsprechender Plakate in der Diskussion mit den Werbetreibenden, aber auch für Bürger*innen transparent und objektiv nachvollziehbar machten:Verwendung sexueller Attraktivität der Frau als Werbemittel ohne Sachzusammenhang, Werbung, die offen oder subtil zu Gewalt an Frauen auffordert, sie in Unterordnung zu Männern darstellt, klischeehaft, in lächerlicher Haltung zeigt. Das galt analog natürlich auch für die Darstellung von Männern. Mit zunehmender Sichtbarkeit gesellschaftlicher Vielfalt in der Werbung und in den Medien habe ich diese Kriterien auf diverse Zielgruppen erweitert. OOH!: Wie hat sich die Bewertung von diskriminierender Werbung seitdem entwickelt? MATSCHKE: Spannend wird die Diskussion, wenn nicht die Werbung für ein Produkt, sondern das Produkt an sich zur Disposition steht. Ich wurde beispielsweise mit der Ablehnung öffentlicher Kondomwerbung einerseits und der Abbildung zweier sich küssender Männer in diesem Zusammenhang andererseits konfrontiert. Vielfach hinkt die gesellschaftliche Akzeptanz dem politischen Aufklärungswillen, in diesem Fall des Gesundheitsministeriums, hinterher. Wo verlaufen die Grenzen in einer pluralistischen Gesellschaft mit abweichenden Auffassungen, mehrdimensionalen Assoziationen, Interpretationen, „Zeitgeist“-Vokabular, zwischen Akzeptanz und Effizienz von Kampagnen unter dem Motto „offene Ansprache“. Ein großes Lob erfuhr die Stadt Stuttgart durch ihre sogenannte „Freierkampagne“ in Zusammenhang mit einer werbewirksamen, weil drastischen Darstellung des Elends von Prostituierten. OOH!: Wie ist Ihr Kontakt zur Aussenwerbung und zum FAW entstanden? MATSCHKE: Genau an dem Punkt der Auseinandersetzung zwischen diskriminierender Werbung für ein Produkt versus Werbung für ein Produkt selbst, das als diskriminierend bzw. sexistisch angesehen Dr. Ursula Matschke wurde 2001 vom Gemeinderat zur Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Stuttgart gewählt und setzte von Beginn an ein neues Selbstverständnis für die Funktion dieses Amtes durch. Sie richtete ihre Arbeit am Individuum aus – der Mensch mit all seinen Facetten wie Geschlecht, Alter, Ethnie, sexueller Identität und Orientierung, sollte im Mittelpunkt einer effizienten Chancengleichheitspolitik stehen. So entstand unter dem Aspekt eines kommunalen Gender Mainstreaming ein modernes strategisches Managementkonzept. Mit der Definition „Gender plus“ gelang es Matschke, den Blick für eine genderübergreifende Gleichstellungspolitik zu erweitern, die nicht ausgrenzt. Heute ist ihr frühes Verständnis einer kommunalen Gleichstellungspolitik als Diversity Management zum Mainstream geworden. 24 OOH! – Trends & Innovationen Deutschland „Mit Verboten regelt man nur die Oberfläche.“

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