Experten – die neuen Sittenwächter Wer Werbeverbote verlangt, zum Beispiel für Tabak oder Zucker, hält die Bevölkerung für leichtgläubig und beeinflussbar, um nicht zu sagen: für dumm. Dieses antiaufklärerische Denkmuster stammt aus alten Zeiten, nur der Stein des Anstoßes wurde ausgetauscht. Im ausgehenden 18. Jahrhundert musste die Obrigkeit im Land der Dichter und Denker feststellen, dass sich eine neue, gefährliche Seuche verbreitet hatte. Es war weder Virus noch Bakterium, sondern eine epidemische Verhaltensstörung: Die Lesesucht hatte das Volk ergriffen, und die damals aufkommenden öffentlichen Leihbüchereien galten als ihre Brutstätten. Die Autoritäten waren alarmiert. Sie sahen das enthemmte Lesen als eine Bedrohung nicht nur für Sitte und Moral, sondern auch für ihren eigenen gesellschaftlichen Status. Wollte sich das Volk lesenderweise von ihnen emanzipieren und sich die Freiheit nehmen, selbständig zu denken und sein Wissen aus neuen Quellen zu beziehen? Das zügellose Lesen in der breiten Bevölkerung galt den Autoritäten jedenfalls als mehrfach gemeingefährlich. Bald war es schiere Zeitvergeudung, die den einfachen Mann von der Arbeit und die brave Ehefrau von der Sorge um Familie und Kirche abhalten ließ. Bald wurde der Lesesucht aber auch umstürzlerisches Potenzial unterstellt. Wer liest, was er will, entzieht sich der Kontrolle der Autoritäten und kommt womöglich auf Ideen, die der Obrigkeit gar nicht passen. Die lesende Frau war eine besondere Gefahr. Denn Frauen galten als leichtgläubig und beeinflussbar. Das schöngeistige Fach könnte am Ende gar die Moral der Leserin gänzlich verderben. Und überhaupt entzog sich die Frau durch die Leserei der männlichen Aufsicht. Eine unerhörte Aufmüpfigkeit! Politische Eliten fühlen sich dazu berufen, das Volk auf den Tugendpfad zu führen Aber auch die Männer galten als gefährdet. Nicht nur, dass sie durchs Lesen faul wurden; mit empfindsamer Literatur könnten sie sich womöglich „Leib und Seele verzärteln“, mahnten die Autoritäten. Die Lage war also ernst. Man musste diese Sucht mit Verboten und rigiden Regeln bekämpfen. Der „Werther“ sollte das prominenteste Opfer dieses Kulturkampfes zwischen den alten Eliten und dem aufstrebenden Bildungsbürgertum werden. Das ist lange her, und dass der „Werther“ heute nicht mehr so eifrig gelesen wird wie auch schon, hat andere Gründe. Doch bis heute überlebt hat das politische Motiv von der gemeingefährlichen – um nicht zu sagen: staatsschädigenden – Verhaltensepidemie. Bis heute erhalten haben sich auch das antiaufklärerische Menschenbild und der Machtdünkel der politischen Eliten, die sich dazu berufen fühlen, das Volk wie ein kleines Kind an der Hand zu nehmen und auf den Tugendpfad zu führen. Allein der Stein des Anstoßes ist ausgetauscht worden. Heute ist nicht mehr das Buch das große Übel der Massen; es sind der Tabak, der Zucker, das Die OOH!-Gastautorin Claudia Wirz ist freie Journalistin und Kolumnistin der „NZZ“; sie wohnt im schweizerischen Zug. 22 OOH!–Aspekte
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