Ihr „Studio Baukultur“ vom Mai dieses Jahres beschäftigt sich mit dem gesamten öffentlichen Raum. Warum ist Baukultur wichtig, was genau umfasst sie? REINER NAGEL: Baukultur ist das Ergebnis aller Aktivitäten zur Gestaltung unserer Umwelt. Sie hat neben sozialen, ökologischen und ökonomischen Bezügen auch eine emotionale und ästhetische Dimension. Ihre Herstellung, Aneignung und Nutzung ist ein gesellschaftlicher Prozess, der auf einer breiten Verständigung über qualitative Werte und Ziele beruht. Das Engagement für Baukultur macht aus Sicht vieler an diesem Prozess Beteiligter Sinn: Private Bauherren können für sich eine Basis für den langfristigen Werterhalt oder Wertzuwachs ihrer Investitionen schaffen. Die öffentliche Hand kann mit ihren Projekten zur Unverwechselbarkeit unserer Städte beitragen und damit lokal und national Identität stiften. Politiker können standort- und strukturpolitisch handeln. Für alle ist Baukultur ein Schlüssel, um gesellschaftlichen und ökonomischen Mehrwert zu schaffen. Spätestens mit „Corona“ ist das Überleben der Innenstädte in den Fokus von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gerückt. Wie lautet Ihr Befund zum Zustand der deutschen bzw. mitteleuropäischen Stadt anno 2021 – ist sie ein sterbendes Gebilde? NAGEL: Nein. Die europäische Stadt und die Zentren durchleben eine Krise, aber sie werden gestärkt daraus hervorgehen. Die CoronaPademie hat eine bereits vorhandene Entwicklung verstärkt und für alle sichtbar gemacht. Der vor Corona schleichende Funktionsverlust war meines Erachtens sogar gefährlicher als die jetzt sichtbaren Probleme. Trotzdem gibt es keine Selbstheilungskräfte, sondern wir müssen aktiv an der Gesundung der Stadt arbeiten – durch neue Mischung, Vielfalt und ergänzende Angebote. Hierzu hat die Bundesstiftung Baukultur kürzlich mit demDeutschem Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung, dem Handelsverband Deutschland und urbanicom einen Vorschlag¹ vorgelegt. Viele Sofortmaßnahmen sind auf den Weg gebracht und ein mit 250 Millionen Euro ausgestattetes Förderprogramm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“ kann sicher helfen. Mehrere Länder haben zudem rasch eigene Sonderprogramme zur Innenstadtstärkung aufgelegt. War Corona also eine notwendige Zäsur, um die ohnehin drängende Erneuerung und Wiederbelebung der Stadt zu forcieren? NAGEL: Ich glaube ja, auch, was den Handel und dessen Trend zur Filialisierung betrifft. Das Innenstädte landauf, landab den gleichen Ladenbesatz haben, wurde von vielen Innenstadtbesuchern zunehmend beklagt und hat demOnlinehandel weitere Argumente geliefert. Nun beschleunigt die Corona-Krise die Strukturprobleme und Funktionsverluste auf dramatische Weise. Neben dem Einzelhandel waren Reiner Nagel, Architekt und Stadtplaner, ist seit 1. Mai 2013 Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur. Zuvor war er Abteilungsleiter in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin, für die Bereiche Stadtentwicklung, Stadt- und Freiraumplanung. Reiner Nagel hat seit 1986 in verschiedenen Funktionen auf Bezirks- und Senatsebene für die Stadt Hamburg gearbeitet, ab 1998 in der Geschäftsleitung der HafenCity Hamburg GmbH. Er ist Lehrbeauftragter an der TU Berlin im Bereich Urban Design und Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung, außerordentliches Mitglied des Bundes Deutscher Architekten und Ehrenmitglied der Brandenburgischen Ingenieurkammer. 2020 wurde er als Mitglied in die Freie Akademie der Künste Hamburg, Sektion Baukunst, berufen. 16 OOH!–Fokus
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